| Kindchenschema
Seitdem Lorenz 1966 die These des Kindchenschemas eingefĂŒhrt hat (Buss, 2004), hat es viele Studien hierzu gegeben, die verblĂŒffend bestĂ€tigende Ergebnisse zu Tage förderten. Bei der Kindchenschematheorie handelt es sich im Wesentlichen um die These, das die Ăhnlichkeit eines Erwachsenengesichtes mit einem typischen Kleinkindgesicht Zuwendung, BesĂ€nftigung und Pflegeinstinkte auslöst.
Nach Lorenz sind folgende MerkmalsausprĂ€gungen typisch fĂŒr das Kindchenschema: verhĂ€ltnismĂ€Ăig groĂer Kopf, eine stark gewölbte und groĂe Stirn, groĂe bis unter die Mitte des GesamtschĂ€dels liegende Augen, weich-elastische OberflĂ€chenbeschaffenheit und runde, vorspringende Pausbacken. AuĂerdem ist die Haut im Vergleich zur erwachsenen Haut unbeharrter, glatter, zarter und heller. Augen, Nase und Kinn sind tiefer positioniert und in engem Abstand zueinander, die Wimpern relativ lĂ€nger, Augen und Pupillen relativ gröĂer, die Nase kleiner und stubsnasenförmiger und verhĂ€ltnismĂ€Ăig vollere und rötlichere Lippen.
Diese Physiognomie des Kindchenschemas wird als Neotenie bezeichnet. (Dass alle diese Merkmale typisch fĂŒr das Kindchenschema-Gesicht sind, ist umstritten, doch Studien zeigten, dass sich vor allem hohe Korrelationen beim schmalen Kinn, runden und groĂen Augen, hohen Augenbrauen und weichen Gesichtskonturen ergaben; Henss, 1998).
Im Allgemeinen weisen mĂ€nnliche und weibliche Gesichter nach der PubertĂ€t Unterschiede hinsichtlich der Neotenie auf: Bei Frauen findet man hĂ€ufiger neotene GesichtszĂŒge als bei MĂ€nnern. Das hĂ€ngt damit zusammen, dass bei Frauen der Reifungsprozess in der Regel frĂŒher aufhört. Somit ist Neotenie ein frauentypisches Gesichtsmerkmal (Henss, 1998) und Studien belegen dies (Jones, 1996).
Die kindstypische Neotenie findet sich ĂŒbrigens bei den meisten SĂ€uglingen von SĂ€ugetieren. Das deutet darauf hin, dass die Neotenie ein Trick der Evolution ist, um eine geschĂŒtzte Aufzucht zu gewĂ€hrleisten. Wie wichtig der âBabyface-Effektâ fĂŒr Kinder ist, zeigte 1988 eine Studie von McCabe (Jones, 1996), in der die Probanden eine höhere Bereitschaft Ă€uĂerten, Kinder aufzuziehen, wenn diese auf Fotos neotene GesichtszĂŒge hatten als bei solchen Kinderfotos, bei denen die Neotenie weniger ausgeprĂ€gt war.
In einer anderen ebenfall von McCabe gefĂŒhrten Studie kam man zu dem verblĂŒffenden Befund, dass missbrauchte Kinder zwischen 3 und 6 Jahren geringere Neotenie-Merkmale aufwiesen als eine Vergleichs-Kontrollgruppe (Jones, 1996)!
Ein GroĂteil der zahlreichen Studien zum Zusammenhang zwischen Kindchenschema und AttraktivitĂ€t ergaben, dass Frauen mit neotenen GesichtszĂŒgen tatsĂ€chlich als attraktiver galten als solche mit weniger ausgeprĂ€gter Neotenie.
Dies war zum Beispiel der Fall in der viel zitierten Studie aus 1986 von Cunningham. Hier korrelierten groĂe Augen, breite Wangenknochen, schmale Wangen, eine kleine Nase und ein kleines Kinn besonders hoch mit AttraktivitĂ€t (Henss, 1998).
Ăhnliches ergab sich 1993 bei Johnston und Franklin (Henss, 1998), die Probanden baten, mit Hilfe von âgenetischen Algorithmenâ erzeugte Frauengesichter nach deren AttraktivitĂ€t zu beurteilen, wobei sie nach jeder Beurteilungsphase jene Gesichter, die als besonders attraktiv beurteilt wurden, nach bestimmten Kriterien modifizierten und wieder beurteilen lieĂen. Sie stellten fest, dass die AttraktivitĂ€tswerte derjenigen Gesichter immer mehr stiegen, je kleiner deren Merkmale in der unteren GesichtshĂ€lfte gemacht wurden, je kleiner der Abstand zwischen Augen und Kinn war und je voller und kleiner die Lippen gemacht wurden.
Man untersuchte bei der Studie von Langlois et al., bei der Babys attraktivere Frauen lĂ€nger anschauten, ob diese Frauen neotene GesichtszĂŒge hatten, was sich als positiv herausstellte. Hier könnte der Grund sein, dass Kinder den adaptierten Mechanismus entwickelt haben, reifere Gesichter als bedrohlich zu empfinden, um sich so vor fremden und möglicherweise gefĂ€hrlichen Menschen zu schĂŒtzen. Denn neotene Gesichter strahlen VertrauenswĂŒrdigkeit und Freundlichkeit aus (Jones, 1996).
In einer von Doug Jones (1996) durchgefĂŒhrten Studie ĂŒber den Babyface-Effekt bei den Ache- und Hiwiindianern ergaben sich Ergebnisse, die den AttraktivitĂ€tsvorteil von Neotenie zu bestĂ€tigen schienen.
In Jones' â Physical attractiveness and the theory of sexual selectionâ wird auch eine Studie beschrieben, in der der Zusammenhang zwischen Alter und Neotenie bei Frauen untersucht wurde und bei der sich eindeutig negative Korrelationen ergaben:
âBeginning at age 25, the eyebrows steadily descend from a position well above the supraorbital rim to a point far below it; sagging of the lateral aspect of the eyebrows makes the eyes seem smallerâ (ENLOW; zit. nach Jones, 1996, S.86).
AuĂerdem wuchsen mit dem Alter die Ohren, die Nase wurde lĂ€nger, weiter und stach mehr hervor und die Lippen verdĂŒnnten sich wegen nachlassender HautelastizitĂ€t und fehlenden ZĂ€hnen.
Weiter oben unter Punkt 3.1. habe ich ausgefĂŒhrt, dass nicht das globale Durchschnittsge-sicht bei der Studie von Perret, May und Yoshikawa das schönste Gesicht war, sondern jenes, bei dem bestimmte Merkmale hervorgehoben wurden.
Welche Merkmale sind es, die ein in vorherigen Studien einstimmig als am attraktivsten beurteiltes Durchschnittsgesicht noch hĂŒbscher machen? Die Antwort darauf lĂ€sst sich mit dem Kindchenschema-Modell beantworten! Es wurden die Merkmale hervorgehoben, die den Effekt der Neotenie noch verstĂ€rkten. Die besonders schönen Gesichter hatten also verhĂ€ltnismĂ€Ăig gröĂere Augen, eine breitere Stirn, einen kleineren Kinn und eine stubs-nasenförmige, kleinere Nase als die konkurrierenden Durchschnittsgesichter von den 15 schönsten Einzelgesichtern und der ganzen Stichprobe.
Solche Frauen mit vergleichsweise sehr ausgeprĂ€gten Neotenie-ZĂŒgen haben die PubertĂ€t einerseits mit niedrigen Werten von mĂ€nnlichen Hormonen vollzogen, wodurch sich eine kleinere, weichere untere Gesichtspartie bei ihnen entwickelt hat. Andererseits hatten sie sehr hohe weibliche Hormonwerte, was unter anderem zu volleren Lippen fĂŒhrt. Ihre GesichtszĂŒge deuten also auf niedrige Androgen- und hohe Ăstrogenwerte hin und wirken deshalb aus evolutionĂ€rer Sicht attraktiv auf MĂ€nner.
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